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Wie feine Spuren im Schnee

 

"Hier sehen Sie ein leises Stakkato, eine lesbare Weißzone, die in ihrer Feinheit

unsere sensibelste Regung erweckt, die uns eine neue Welt der kleinen Nuancen,

der Stille, abseits allen Geschreies, vermittelt." So beschreibt Günther Uecker

seine eigenen Arbeiten, als er 1961 mit seinem "Vortrag über Weiß" die erste

Ausstellung von Raimund Girke (1930–2002) eröffnet.

Wenn man sich Girkes Werk in Erinnerung ruft, ist klar, dass Uecker damit nicht

nur seine Kunst, sondern auch die des Freundes in Worte fassen wollte. Denn

dessen Malerei beschränkte sich auf das vermeintlich Unmalerischste überhaupt:

das Weiß, absolute Leere, für manchen horror vacui. Für Girke war es das

Gegenteil. Im Weiß lag für ihn die Erfüllung und zugleich das Experimentierfeld für

seine äußert radikale Malerei. Dieser ist er bis zu seinem Tod 2002 treu geblieben.

In einer Verkaufsausstellung zeigt die Villa Grisebach in Kooperation mit der

Galerie Fahnemann nun 39 dieser Bilder aus dem Nachlass des Malers. Die

meisten stammen aus den beiden letzten Schaffensjahrzehnten und sind noch nie

gezeigt worden.

Girke nutze die unterschiedlichsten Formate und Techniken, um dem Weiß sein

Geheimnis zu entlocken. Mal sind die Leinwände riesig, mal ganz klein. Mal sind

sie weiß, mal schimmern Blau-, Schwarz-, Braun- und sogar Ockertöne hindurch.

Immer gut erkennbar ist der Strich, oft mit breitem Malerpinsel aufgetragen, in

großer Geste oder aber nervösem Stakkato.

Girke nutzt die Aquarelltechnik ebenso wie Öl, Acryl und auch die Zeichnung.

Zwei großformatige Aquarelle spüren allen Nuancen von Weiß und Grau nach,

zwei andere spielen mit Grauschattierungen auf dem Spektrum von

Dämmerungsgrau und Nachtdunkel. Oft fühlt man sich an Naturerscheinungen

erinnert: an Spuren im Schnee, Wellen im Wasser, im Wind wogende Ähren oder

Regen an einer Fensterscheibe. Doch Gegenständliches lag Raimund Girke schon

immer fern. Er gehört zu jener Generation von Malern, die sich der Abstraktion

nicht erst über den Umweg der Gegenständlichkeit nähern muss, sondern stets

schon dort war. Nie hat Raimund Girke sich durch die Strömungen in der

Nachkriegsmalerei beeindrucken lassen: nicht vom abstrakten Expressionismus,

nicht von der Pop Art und nicht von den Neuen Wilden. Erst in den 80er-Jahren

wird diese Strenge aufgeweicht: Als Gegenpart zum Weiß quillt Schwarz aus dem

weißen Grund hervor.

Im Zuge der Wiederentdeckung der Gruppe Zero für den Kunstmarkt durch die

sensationelle Versteigerung bei Sotheby's in London 2010 ist auch Girke wieder in

den Fokus des Interesses geraten.

Grisebach, Fasanenstr. 27, Mo–Fr 10–18 Uhr, Sa 11–16 Uhr, Bis 13. August

http://m.morgenpost.de/kultur/article207746587/Wie-feine-Spuren-im-Schnee.html                                                                    29.06.16, 19:25

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